The Holocaust Galleries / Second World War Galleries

The Holocaust Galleries

Organizer
Imperial War Museum London
ZIP
SE1 6HZ
Place
London
Country
United Kingdom
From - Until
20.10.2021 -

Second World War Galleries

Organizer
Imperial War Museum London
ZIP
SE1 6HZ
Place
London
Country
United Kingdom
From - Until
20.10.2021 -

Publikation(en)

: The Holocaust London 2021 : Imperial War Museum, ISBN 978-1-912423-40-8 208 S., zahlr. Abb. £ 20.00
: Total War. A People's History of the Second World War. London 2021 : Thames & Hudson (in partnership with Imperial War Museum), ISBN 978-0-500-29666-0 288 S., 390 Abb. £ 19.95
Reviewed for H-Soz-Kult by
Stephan Jaeger, Department of German and Slavic Studies, University of Manitoba

Am 20. Oktober 2021 eröffnete das Imperial War Museum London seine neuen Ausstellungsräume zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust. Damit schloss es die zweite Phase des Programms „Transforming IWM London“ ab, die mit der Eröffnung der Erdgeschossgalerie zum Ersten Weltkrieg und der Renovierung des Atriums 2014 begonnen hatte. Die von Ralph Appelbaum Associates gestaltete Präsentation zum Zweiten Weltkrieg1 liegt im ersten, die in Zusammenarbeit mit Casson Mann entstandene Holocaust-Ausstellung2 im zweiten Stock. Im Vergleich zu den Vorgängerausstellungen3 sind beide Teile nun erheblich globaler und weniger aus britischer Perspektive gestaltet. Beide bleiben jedoch auf zeitgenössisches Material konzentrierte Geschichtsausstellungen, die die inzwischen viel längere Geschichte der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust komplett ausblenden.4 Wie alle Häuser des Imperial War Museum rücken beide Ausstellungen Geschichten der von Krieg und Genozid betroffenen Menschen in den Mittelpunkt. Auffällig ist, dass die vorhandenen britisch geprägten Sammlungen des Museums durch Neuankäufe, Schenkungen und die Erforschung globaler Dimensionen deutlich erweitert wurden, sodass Besucher:innen viele eher unbekannte Geschichten aus aller Welt entdecken können. Dabei vermeiden es die Kurator:innen der Holocaust-Ausstellung, globale Universalerinnerungsorte ins Zentrum zu setzen; stattdessen erzählen sie eine Vielfalt interessanter Einzel- und Familiengeschichten. Dadurch erscheint etwa Auschwitz im Zusammenhang des gesamten Systems aller Konzentrations- und Vernichtungslager weniger prominent, und man muss sehr genau suchen, um die jeweils einzige Nennung von Anne Frank oder von Oskar Schindler zu finden.

Beide neuen Ausstellungen werden vom Museum als konzeptionell verbunden gepriesen, womit das IWM das erste Museum auf der Welt sein will, das Räume zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust unter einem Dach vereinigt. Visuell beeindruckend ist die einzige physische Verbindung zwischen den beiden Ebenen. Eine V1-Bombe ist so installiert, dass sie in der Holocaust-Ausstellung die Geschichte der Zwangsarbeit demonstriert, während sie in der Ausstellung zum Zweiten Weltkrieg für die sich unter der Bombe befindlichen Besucher:innen symbolisch zur direkten Bedrohung wird.


Abb. 1: Installation einer V1-Bombe im Raum „Versklavung“ der Holocaust-Ausstellung mit Blick auf die darunter liegende Ausstellung zum Zweiten Weltkrieg
(Foto: Imperial War Museum)

Die neue Dauerausstellung zum Holocaust präsentiert über 2.000 Fotos, Bücher, Kunstwerke, Briefe und persönliche Gegenstände. Im Zusammenspiel mit den Objekten sind zahlreiche Geschichten von Verfolgten und deren Familien durch die ganze Ausstellung vernetzt. Ein Masternarrativ, dass den Holocaust im Sinne einer Antithese zur britischen Geschichte und zum gerechten Krieg der Alliierten vereinnahmt5, ist anders als in der Vorgängerausstellung nicht zu erkennen. Die jetzige Ausstellung ist in fünf Hauptbereiche (und insgesamt dreizehn Abschnitte) unterteilt: Sie beginnt mit einem Prolog zum jüdischen Leben vor dem Nationalsozialismus bzw. vor nationalsozialistischer Besatzung. Es folgen der Aufstieg des Nationalsozialismus und der damit verbundenen Ideologien sowie die Phase der zunehmenden Isolierung jüdischer Menschen in Deutschland und Österreich 1934–1941. Diese war geprägt von Flucht und Emigration, vom Beginn des Krieges sowie von der Etablierung der Ghettos und anderen nationalsozialistischen Maßnahmen, die dem Holocaust vorausgingen. Im vierten Teil befinden sich – bewusst eher simultan als chronologisch gestaltet – die Räume „Massaker“, „Maßnahmen“, „Vernichtung“, „Vernichtungslager“, „Sklavenarbeit“ und „Zusammenbruch“. Abschließend gibt es die Räume zum „Danach“, mit der Frage von Verantwortlichkeit und Gerichtsprozessen sowie dem Epilog „Leben ohne sie“.


Abb. 2: Eingangsraum der Holocaust-Ausstellung, Ausschnitt der Filminstallation zu jüdischen Spuren und Orten
(Foto: Imperial War Museum)

Für die Dramaturgie der Ausstellung ist der Einstieg ganz entscheidend. Erst begegnen die Besucher:innen einer unkommentierten Filminstallation, die gegenwärtige Bilder von jüdischen Orten und Spuren vor und während Krieg und Verfolgung farbig in einer mehrstündigen Endlosschleife zeigt, was die Atmosphäre einer Präsenz der Abwesenheit schafft. So entsteht eine emotionale Beziehung zwischen den heutigen Besucher:innen und dem Ereigniszusammenhang der Massenvernichtung. Im Folgeraum bietet die Ausstellung mit über 1.200 Bildern und Filmmaterial ein visuelles Panorama freier jüdischer Existenz in ganz Europa. Einerseits bekommt man einen Eindruck vom äußerst vielfältigen jüdischen Leben: vom orthodoxen Judentum, Ritualen wie der Bar Mitzwa, Familienportraits, Haustieren, Freizeitaktivitäten sowie von jüdischen Menschen aller Altersgruppen und unterschiedlichsten Landschaften quer durch Europa. Dies erzeugt eine Vielstimmigkeit, die in starkem Kontrast zu den menschenleeren Orten des Eingangsraumes steht. Gleichzeitig wird der Raum jedoch auch sehr konkret und individuell.


Abb. 3: Raum „Jüdisches Leben“ mit Großporträts in der Holocaust-Ausstellung
(Foto: Imperial War Museum)

Große Porträts (vergrößert von Originalfotos) stellen sechs jüdische Menschen vor, die den Besucher:innen auf Augenhöhe beinahe in Originalgröße begegnen. Man erfährt nicht von vornherein, was diesen Personen im Holocaust zugestoßen ist, sondern nähert sich ihnen als Menschen. Aufmerksame Besucher:innen können die Einzelschicksale und Familiengeschichten über die Ausstellungsräume verteilt wiederfinden, sodass die Präsentation auch eine von NS-Maßnahmen und Handlungen unabhängige, eigenständige Perspektive der Individuen entwickelt. Selbst wenn der Schwerpunkt der Darstellung auf den jüdischen Verfolgten liegt, gelingt es den Ausstellungsmacher:innen, die Stimmen anderer Gruppen, gerade der Roma, in die Darstellung zu verweben.

Bezüglich des Designs ist zuerst die helle Beleuchtung der Ausstellungsräume markant, darauf hinweisend, dass der Holocaust nicht im Verborgenen stattfand, was der traditionellen Idee einer dunklen Atmosphäre vieler Holocaust-Museen, einschließlich der Vorgängerausstellung, widerspricht. Während die Designer:innen und Kurator:innen auf ungebrochene, mimetische Formen der Darstellung weitestgehend verzichten, ist die Ausstellung extrem sorgfältig szenographisch gestaltet. Eine SA-Uniform wird als fragmentarische Hülle ausgestellt, sodass die Besucher:innen reflektieren können, wie Uniformen und Ideologien von Menschen gefüllt werden – oder sich selbst hinterfragen können, ob sie von einer solchen Uniform verführt bzw. verändert werden könnten. Täterfotos haben schwarze Rahmen, während Bilder von Verfolgten ganzflächig sind.

Im Gegensatz zu vielen anderen neueren Holocaust-Ausstellungen sieht das IWM die Notwendigkeit, den Horror der Verfolgung und Massenvernichtung in Fotografie und Film explizit zu zeigen. Es gibt eine Altersempfehlung, dass die Besucher:innen mindestens 14 Jahre alt sein sollen. Die pädagogischen Materialien enthalten einen „Sensitive Content Guide“ und eine Karte zu entsprechenden Inhalten in der Ausstellung.6 Ähnlich wie die Vorgängerausstellung verwendet die neue Schau vergrößerte Fotografien, zum Beispiel von antisemitischen Aktionen in Österreich, was das Risiko birgt, Besucher:innen ästhetisch zu überwältigen. An anderen Stellen hingegen werden sie zum kritischen Denken angeregt. So werden etwa im Raum „Massaker“ mit Fokus auf den Einsatzgruppen Täterfotos der Verbrechen in Lubny, Liepāja (Libau), Ponary, Babyn Jar und Chișinău (Kischinau) gezeigt. Diese verhältnismäßig kleinen Fotos stehen in einem starken Kontrast zu riesigen menschenleeren Naturbildern aus der Gegenwart, die fast wie idyllische Urlaubsmotive an der Ostsee wirken. Die Klanglandschaft spiegelt diese Spannung zwischen Naturgeräuschen und einem leisen eindringlichen Tinnitus wider. Dieser extreme Kontrast fordert die Besucher:innen zur kritischen Verarbeitung auf: Weder ist ein voyeuristischer Blick möglich noch können sich die Besucher:innen den emotionalen Spannungen des Raumes ganz entziehen. Gleichzeitig begegnet man zum Ende des Raumes drei lebensgroßen Fotofiguren sowie Objekten aus Emanuel Ringelblums Oneg-Shabbat-Archiv aus dem Warschauer Ghetto, womit die Stimmen, Zeugnisse und Handlungen der Verfolgten die Handlungen der Täter überlagern.


Abb. 4: Raum „Massaker“ in der Holocaust-Ausstellung
(Foto: Imperial War Museum)

Didaktisch ergänzt wird die Ausstellung durch eine App für Schulklassen, die gerahmt von Vor- und Nachbereitung im Taube Family Holocaust Learning Centre des Museums mit Hilfe von neuestem Videospieldesign und jüngster Digitalpädagogik ein kritisches, aktives Lernen über den Holocaust fördern soll. Das Begleitbuch zur Ausstellung von Hauptkurator James Bulgin erläutert mit reichlich Bildmaterial die inhaltlichen Kapitel der Ausstellung aus historischer Sicht, ohne sich direkt auf die Szenographie im Museum zu beziehen.


Abb. 5: Ausschnitt aus dem Bereich „Japan greift an“ in der Ausstellung zum Zweiten Weltkrieg; Landschaftsinstallation aus den Philippinen im Hintergrund
(Foto: Imperial War Museum)

Die neue Dauerausstellung zum Zweiten Weltkrieg wirkt im Vergleich zur Holocaust-Ausstellung in ihrem Design etwas konventioneller und ist mit gut 1.500 Objekten vornehmlich durch über zwei Meter hohe Glasvitrinen geprägt. Sie ist in sechs Phasen unterteilt: „Ende des Friedens“, „Der Krieg verschlingt Europa“, „Britanniens Krieg“, „Globaler Krieg“, „Sieg in der Schwebe“ sowie „Das Ende und danach“. Das Museum löst sich damit von den überwiegend durch die britische Perspektive geprägten alten Ausstellungen.7 Jeder der sechs Teile wird mit einer Leitfrage eröffnet, zum Beispiel „Wie wurde der Krieg zum Weltkrieg?“ Die Ausstellung ist von den beiden Grundprinzipien des totalen und des globalen Krieges geprägt. Der dritte (und erste große) Ausstellungsteil zum „britischen Krieg“ hebt besonders hervor, dass der Mythos, die Briten seien nach der französischen Kapitulation im Kampf gegen Hitler-Deutschland allein gewesen, nicht stimmt, gerade wenn man die ungeheuren Ressourcen des Empires betrachtet. Das Globale des Krieges wird darüber hinaus insbesondere im vierten Ausstellungsteil deutlich, wo die verschiedenen Schauplätze der Kämpfe in räumlichen Arrangements zur Anschauung gebracht werden. Vier große farbige Landschaftsvideos aus Ägypten, der Ukraine, den Philippinen und dem Atlantischen Ozean, in der Gegenwart aufgenommen – unterstützt durch die Akustik, die von den Naturgeräuschen der vier Landschaften geprägt ist –, konfrontieren die Besucher:innen auf eindrückliche Weise immersiv mit den unterschiedlichen Terrains der weltweiten Kämpfe. Der fünfte Teil beleuchtet den Kriegsverlauf ab 1943 anhand der britischen Heimatfront, aber auch mit Schwerpunkt auf Frauen im Krieg, zum Pazifikkrieg, dem Bombenkrieg, dem Krieg in Osteuropa, dem D-Day und schließlich dem Ende des Krieges.


Abb. 6: Ausschnitt aus dem Bereich „Überfall auf die Sowjetunion“ in der Ausstellung zum Zweiten Weltkrieg; Vitrine mit Uniformen von Wehrmacht, SS und Verbündeten sowie eine Landschaftsinstallation aus der Ukraine im Hintergrund
(Foto: Imperial War Museum)

Neben dem globalen ist auch der totale Krieg ein wesentlicher Schwerpunkt der Ausstellung. Durch rote Tafeln mit weißer Schrift verweisen die Kurator:innen in allen Bereichen auf die allumfassende Realität des Krieges: von der zum Ziel werdenden Zivilbevölkerung, den Kriegsverbrechen gegen Zwangsarbeiter:innen, systematischen Vergewaltigungen, dem Bombenkrieg, der allgemeinen Mobilmachung bis hin zu Genozid und Vertreibung. Auch der Holocaust taucht in den Passagen zum Angriff auf die Sowjetunion, zum Krieg in Europa 1943–1945 und zur Befreiung der Konzentrationslager als integraler Teil des Zweiten Weltkrieges auf. Allerdings könnte man für beide Ausstellungen einwenden, dass Aspekte wie Kollaboration, Besatzungsherrschaft, Pogrome, stalinistischer Terror und andere Handlungszusammenhänge wenig genutzt werden, um die Verflechtung von Gewaltgeschichten über die klassischen Perspektiven von Verbündeten und Gegnern hinaus zu verstehen. Die Ausstellung zum Zweiten Weltkrieg stellt die Sowjetunion als geschlossenen Block und vornehmlich aus der altbekannten Perspektive als Teil der Alliierten dar. Nur einige Tafeln und Gegenstände zu Polen – dem Katyn-Massaker, dem Warschauer Aufstand und der polnischen Heimatarmee – lassen erahnen, dass die Verhältnisse komplizierter waren.

Der Fokus auf Erzählungen und biographischen, oft mit Objekten verknüpften Darstellungen bringt eine Geschichte der Menschen im Zweiten Weltkrieg zur Sprache, die etwas Neues und Überraschendes erzählt. Die individuellen Geschichten haben zwar einen Schwerpunkt auf Großbritannien und dem britischen Empire, schließen aber die Perspektiven von sehr unterschiedlichen Menschen aller globalen Kriegsparteien ein. Die Beschreibungen sind auf jeweils etwa 70 Worte begrenzt; sie werden durch ein Foto und oft ein bis zwei Artefakte ergänzt. So lesen die Besucher:innen die Geschichte von Thomas Andi, einem nigerianischen, zivilen Matrosen der Handelsmarine, dessen Trinkflasche aus einem deutschen Kriegsgefangenenlager gezeigt wird. An anderer Stelle erfahren sie, wie der italienische Offizier Vittorio Caressa seiner Familie in einem Brief, der hier im Original zu sehen ist, von Erfrierungen und Hunger in Stalingrad berichtet. Eine gewisse Divergenz zum sonstigen Ausstellungsstil entsteht in Segmenten, wo die biographischen Geschichten einer eher traditionellen militärhistorischen Perspektive weichen. So ist der Abschnitt über den Krieg in Osteuropa von 1943 bis 1945 eine recht statische Ansammlung von Objekten und Referenzen zur Militärgeschichte, mit nur zwei Biographien als typischen Heldengeschichten.


Abb. 7: Ausschnitt aus dem Bereich zum Krieg in Osteuropa, 1943–1945, in der Ausstellung zum Zweiten Weltkrieg
(Foto: Imperial War Museum)

Die Ausstellung zum Zweiten Weltkrieg vermeidet eine vollständig mimetische Inszenierung des Luftkrieges über England wie die alte Darstellung der „Blitz Experience“, die bis 2014 versuchte, die Besucher:innen emotional so unmittelbar wie möglich einen Bombenangriff auf London erfahren zu lassen. Sie sollte die Illusion zu schaffen, man wäre in einem Luftschutzbunker und in den brennenden Straßen. Die neue immersive Installation ist eine digitale auditiv-visuelle Deckeninstallation, die das Warten auf einen möglichen Luftalarm, die Warnsirenen, die Bombardierung und das Aufheben des Alarms simuliert. Gleichzeitig bleiben die Besucher:innen aber in hellen und sauberen Museumsräumen mit zahllosen Glasvitrinen, sodass der immersive Effekt, einen Bombenangriff zu erleben, bewusst gebrochen wird. Etwas traditioneller erscheint das danebenstehende Haus mit Mauerschäden, Luftschutzunterständen und einer historischen Inneneinrichtung.


Abb. 8: Bereich „Britanniens Krieg“ mit immersiver Deckeninstallation zur Bombardierung Londons in der Ausstellung zum Zweiten Weltkrieg – hier im Bild ist nur blauer Himmel zu sehen, noch ohne Flugzeuge.
(Foto: Imperial War Museum)

Die Darstellung des Luftkrieges über Europa ist eine der vielseitigsten Museumspräsentationen zu diesem Thema weltweit.8 Die katastrophalen Effekte des Luftkrieges sowohl für die deutsche als auch für die britische Zivilbevölkerung werden klar, ohne die Leistungen britischer und amerikanischer Bombercrews in Frage zu stellen. Die Besucher:innen bekommen einen Eindruck von allen Facetten des Bombenkrieges und können selbst abwägen, wie mit der daraus entstehenden Spannung zwischen Kriegszielen und Effekten auf die Zivilbevölkerung umzugehen ist. Auch wenn sich die Darstellung hier auf die Jahre 1943 bis 1945 konzentriert, zeigt sich an dieser Stelle die im Museum sonst zu wenig genutzte Möglichkeit, Kriegserfahrung mehr in thematischen Clustern als chronologisch zur Anschauung zu bringen. Überzeugend ist der vielfältige, multiperspektivische Schlussraum zur Wirkung des Zweiten Weltkrieges. Besonders erwähnenswert ist die Geschichte des Jamaikaners Allan Wilmot. Er diente mit der Royal Air Force in England und entschied sich 1947 aufgrund seiner guten Erfahrungen, aus der Karibik nach England zurückzukehren, wo er aber nur rassistische Diskriminierung, Arbeitslosigkeit und Gelegenheitsjobs erlebte. Illustriert wird die Geschichte durch seinen Koffer, Stetsonhut und die Hutschachtel.

Auch die Ausstellung zum Zweiten Weltkrieg wird von einem historischen Sachbuch der drei Kurator:innen Kate Clements, Paul Cornish und Vikki Hawkins ergänzt. Neben Geschichten, Bildern und Objekten aus der Ausstellung ist hier die Präsentation von militärgeschichtlichen Karten und Statistiken auffällig, die im Museum deutlich weniger eingesetzt werden.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Behauptung des Imperial War Museum London, das erste Museum auf der Welt mit gemeinsamen Räumen zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust zu sein, höchstens insofern stimmt, dass wohl kein anderes Museum zwei separate, lose miteinander verbundene Dauerausstellungen dieser Art in einem Gebäude bietet. Doch schon ein nur kursorischer Blick auf das Mémorial de Caen (Neugestaltung der Dauerausstellung 2009/10), das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden (seit 2011)9 und das Museum des Zweiten Weltkrieges in Danzig (seit 2017)10 zeigt, dass es Dauerausstellungen gibt, in denen die Verzahnung von Holocaust und Zweitem Weltkrieg konsequenter vorgenommen wurde.11

Die Holocaust-Ausstellung des IWM London schafft eine konkrete Erzählperspektive, die sich von den Erzählungen der Täter absetzt. Das Design ermöglicht den Besucher:innen größtenteils, sich kritisch – emotional und kognitiv – mit der Vielfalt der Möglichkeiten auseinanderzusetzen, wie man sich selbst bei der Verfolgung von Juden, Roma und anderen Gruppen verhalten hätte; es verweigert den Besucher:innen einerseits die leichte Distanzierung, während es andererseits keine mimetische Empathie zulässt, sondern nur strukturelle Erfahrung wie beim Kontrast von Naturidylle und Massenerschießungsfotos. Hingegen ist die Ausstellung zum Zweiten Weltkrieg weitaus stärker auf Faktizität konzentriert. Die Besucher:innen erfahren zwar sehr viel über globale Perspektiven; sie werden aber letztlich weder durch direkte ethische Herausforderungen noch über emotionale Inszenierungen von Dissonanzen – wie in der Holocaust-Ausstellung – dazu aufgerufen, über Handlungsmöglichkeiten im Krieg nachzudenken. Damit bleibt der Impuls zu kritischem Denken sehr indirekt, und es ist einfach, sich vollends aus jedem Bezug zum vergangenen Krieg zurückzuziehen, der dann nichts mit der eigenen Lebenswelt zu tun haben muss.

Trotz dieses deutlichen Unterschiedes sind dem Imperial War Museum London zwei hervorragende Ausstellungen gelungen, die auf neuestem Stand der Geschichtswissenschaft, der Museologie und der Museumstechnik einen beindruckenden Blick auf die Komplexität von Zweitem Weltkrieg und Holocaust werfen. Interessierte sollten möglichst zwei separate, aber dicht aufeinander folgende Besuche planen, um sowohl der Vielfalt an Objekten, Geschichten und Informationen als auch den Darstellungsnuancen beider Ausstellungen gerecht werden zu können.

Anmerkungen:
1 Siehe auch https://raai.com/project/second-world-war-galleries-imperial-war-museum/ (18.05.2023).
2 Siehe auch https://www.cassonmann.com/projects/holocaust-galleries (18.05.2023).
3 Die erste, nun ersetzte Holocaust-Ausstellung des Imperial War Museum aus dem Jahr 2000 ist mit Blick auf ihre Methodik und Ästhetik vielfach analysiert und kritisiert worden. Siehe zusammenfassend Hannah Holtschneider, Holocaust Representation in the Imperial War Museum. 2000–2020, in: Tom Lawson / Andy Pearce (Hrsg.), The Palgrave Handbook of Britain and the Holocaust, London 2020, S. 389–404.
4 Zu einer damit weiterhin gültigen Kritik an der fehlenden Diskussion von Holocaust-Erinnerung und Medien wie Literatur, Film und Kunst in der Vorgängerausstellung zum Holocaust im Imperial War Museum siehe Andrew Hoskins, Signs of the Holocaust. Exhibiting Memory in a Mediated Age, in: Media, Culture & Society 25 (2003), S. 7–22, hier S. 20.
5 Vgl. Tim Cole, Nativization and Nationalization. A Comparative Landscape Study of Holocaust Museums in Israel, the US and the UK, in: Journal of Israeli History 23 (2004), S. 130–145, hier S. 136.
6 Siehe https://www.iwm.org.uk/file-download/download/public/17959 und https://www.iwm.org.uk/file-download/download/public/17960 (18.05.2023).
7 Für eine Analyse der von 2012 bis 2019 gezeigten Ausstellung A Family in Wartime siehe z.B. Stephan Jaeger, The Second World War in the Twenty-First-Century Museum. From Memory, Narrative, and Experience to Experientiality, Berlin 2020, https://doi.org/10.1515/9783110664416 (18.05.2023), S. 90–93.
8 Für eine umfassende Analyse musealer Darstellungen des Luftkrieges siehe Jaeger, The Second World War, S. 265–291. Selbst Museen wie das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden oder das Bastogne War Museum (2014), die eine durchaus multiperspektivische Struktur besitzen, vermeiden eine explizite Reflexion über politische, militärische oder individuelle Handlungsoptionen im Bombenkrieg und verschiedene Möglichkeiten zu dessen Interpretation (siehe zusammenfassend ebd., S. 291).
9 Vgl. auch die Rezension von Swen Steinberg, in: H-Soz-Kult, 14.01.2012, https://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/reex-130675 (18.05.2023).
10 Vgl. auch die Rezension von Steffi Kleiß, in: H-Soz-Kult, 12.08.2017, http://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/reex-130788 (18.05.2023), und Daniel Logemann / Juliane Tomann, Gerichte statt Geschichte? Das Museum des Zweiten Weltkrieges in Gdańsk, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 16 (2019), S. 106–117, URL: https://zeithistorische-forschungen.de/1-2019/5685 (18.05.2023).
11 Siehe Jaeger, The Second World War, S. 221–264.

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